An den Originalschauplätzen die Reformation live erleben.
Luther lohnt sich – auch nach 500 Jahren. Das ist das Ergebnis und Motto einer Studienfahrt, die der Religions-Leistungskurs der Q2 zusammen mit weiteren Interessierten der Stufe unternommen hat. So reisten 16 Schüler und zwei begleitende Lehrer vom 7. bis 11. November 2022 mit der Bahn nach Leipzig, Wittenberg, Torgau und Eisenach, um an den Originalschauplätzen Luther und die Reformation hautnah zu erleben.
Diese Reise entspricht dem Studienfahrtkonzept der Viktoriaschule, „Schule an einem anderen Ort“: Sie thematisiert abiturrelevante Inhalte im Fach Religion. Reiseführer sind an vielen Stationen die Schüler selbst, die für die Gruppe durch vorbereitete Referate die jeweiligen Stätten erschließen.
Was lohnt sich heute noch an Luther? Ein kurzer Einblick in unsere Erfahrungen und Erkenntnisse gibt vielleicht Antworten auf diese Frage.
Die Thomaskirche in Leipzig erinnert an den Beginn der Reformation. Martin Luther selbst setzte mit seiner Predigt 1539 einen Anfang in der Thomaskirche. Nebenbei beherbergt die Kirche eine weitere Berühmtheit. Johann Sebastian Bach beginnt als Thomaskantor eine bis heute reichende Tradition der Kirchenmusik – auch ganz nach Luther: Gott kommt durch das Ohr zu uns!
Die Nikolaikirche in Leipzig, ebenso 1539 evangelisch geworden, spielte für die Wende in der DDR eine zentrale Rolle. Luther gilt mitunter als Begründer eines deutschen Untertanengehorsams. Mutige Christen haben aber jedoch Ende der 80er Jahre daran angeknüpft, dass Luther zu gewaltlosem Widerstand auffordert, wenn die Obrigkeit gegen die Gebote Gottes handelt. Genau das hat junge Christen in der DDR zu ihrem Einsatz für Reformen motiviert. Ihre Rolle auch als politische Kirche erfüllt die Nikolaikirche nach wie vor. Im Friedensgebet am Montagabend haben uns Jugendliche aus aller Welt vom Leben in ihrer Heimat berichtet und daran erinnert, dass die Welt nach wie vor von Gewalt und Krieg geprägt ist.
Wittenberg ist natürlich DIE Lutherstadt. Gefühlt alles in der Stadt gibt sich das Luther-Label: Lutherweg, Lutherhotel, Luther-Residenz, Luther-Melanchton-Gymnasium, Lutherbier. Im Lutherhaus, seinem Wohnort, werden wir durch Räume im Originalzustand geführt. Hier sollen schon Besucher in Tränen ausgebrochen sein, denn näher erlebt man den Reformator nirgends. (Der Reli-LK blieb jedoch recht gelassen und sachlich).
Kein Weg in Wittenberg führt an der Tür der Schlosskirche vorbei, an die Luther 1517 seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel nagelte. Neuere Forschungen halten diese Story inzwischen für recht wahrscheinlich, nachdem diese spektakuläre Tat lange als Legende galt. In dieser Kirche liegt Martin Luther begraben, ihm gegenüber der zumeist unterschätzte Reformator Philipp Melanchthon.
Die Stadtkirche in Wittenberg ist für die Verbreitung der Reformation jedoch wichtiger. Es war Luthers Predigtkirche, seit seiner Lehrtätigkeit an der Universität hält er hier unzählige Gottesdienste, seit Weihnachten 1521 auch auf Deutsch, hier heiratet er Katharina von Bora. Wir lassen uns das beeindruckende Altarbild von Lucas Cranach erklären, der es geschafft hat, für das theologische Programm Luthers einen bildlichen Ausdruck zu finden. Die schwierigen Schriften Luthers konnten damals nur wenige Menschen lesen, und bis heute stellen diese Texte selbst für Leistungskursschüler eine besondere Herausforderung dar. Cranach hatte Humor: In der Abendmahlrunde mit Jesus sitzt Luther selbst und lässt sich ein Getränk reichen (vermutlich ein Lutherbier).
Am Merch-Stand der Kirche gibt es die Kunstwerke als Poster, die nun im Reli-Raum der Viktoriaschule als bildliches Arbeitsmaterial hängen.
Der zweite, mit Programm vollgepackte Tag führt uns noch nach Torgau. Die Schlosskirche ist einzigartig, sie gilt als Modell einer evangelischen Kirche. Luther selbst war gegen Ende seines Lebens daran beteiligt, protestantische Theologie in Architektur zu transformieren, und hat 1544 mit einer programmatischen Predigt die Kirche selbst eingeweiht. Es ist ein bilderloser Zweckbau mit Emporen und einer Kanzelposition, die vielen Gläubigen ein Hören der Botschaft ermöglicht. Der schlichte Altar ist ein Tisch ohne Reliquien, die Kanzel zeigt als einziger Ort in der Kirche Bilder, biblische Szenen, die auf die Formeln der Reformation verweisen: sola scriptura, sola gratia, sola fide.
Durch die Apostelkirche im Leipziger Vorort Großzschocher führen uns zwei ältere Gemeindemitglieder. Sie zeigen uns die Besonderheiten dieser kleinen, schönen Kirche. Der „Herrschaftsstand“, eine Besonderheit evangelischer Kirchen seit dem 17. Jahrhundert, ist ein abgetrennter Raum für die Herrschaften und Finanziers der Kirche – eine eigentlich bittere Entwicklung, ist doch Luther für die Gleichheit aller Gläubigen eingetreten. Die kirchliche Hierarchie zwischen Klerus und Laien wird jetzt durch eine politische Differenz ersetzt. Heute dient der Herrschaftsstand jedoch eher als Abstellkammer. Interessant sind die Geschichten aus dem Gemeindeleben in der DDR. Stolz erzählen die beiden älteren Herren von dem Zusammenhalt im Einsatz für ihre Gemeinde gegen staatliche Repression. So musste in den 70er-Jahren eine neue Heizung eingebaut werden, nur mit „organisiertem“ Material und einer Arbeit von Gemeindemitgliedern in ihrer Freizeit. Nur durch eine spektakuläre Schmuggleraktion bekam man Blattgold aus dem Westen für den Emporenschmuck.
Die Leipziger Nationalbibliothek beherbergt ein kleines Museum mit einer Dauerausstellung zu 5000 Jahren Mediengeschichte. Eine freundliche Mitarbeiterin – auf einen Reli-LK vorbereitet – zeigt uns einige Originaldokumente aus der Reformationszeit, Schriften Luthers, Flugblätter, die ersten Massenmedien. Eindrucksvoll erleben wir eine zentrale Erkenntnis: Ohne Drucktechnik keine Reformation.
Wir verlassen Leipzig und reisen nach Eisenach. Das Lutherhaus, Wohnort des jungen Martin als Schüler, beeindruckt durch eine gut gemachte, moderne Gestaltung und Vermittlung. So wird an einem Spielautomaten Luthers Kritik am Ablasshandel unmittelbar klar.
Die Wartburg, bedeutsames Gebäude deutscher Geschichte, hat viel zu bieten, uns interessiert natürlich hauptsächlich ein kleiner Raum ganz am Ende der Burg, das Lutherzimmer. Hier versteckte sich Luther als Junker Jörg, nachdem er für „vogelfrei“ erklärt wurde. Es war für den hyperaktiven Theologen ein ungeliebter Lockdown, doch Langeweile weckt Kreativität. Motiviert durch Freunde setzte er sich daran, das Neue Testament ins Deutsche zu übersetzen. In nur elf Wochen schaffte er dieses große Projekt, noch heute kann man über diese Leistung staunen. Er machte nicht nur die Bibel für viele Menschen zugänglich, seine Übersetzung prägt oder erschafft sogar die deutsche Sprache. Zahlreiche deutsche Begriffe sind Erfindungen Luthers: Ohne Gewissensbisse tappten wir im Dunkeln, doch auf eigene Faust bekamen wir für immer und ewig einen Denkzettel. (Luther erfindet sogar das Gendern und spricht von den Regenr-innen).
Berühmt ist Luthers Zelle vor allem wegen des Jahrhunderte gepflegten Tintenflecks an der Wand. Die höchst symbolische Story, Luther kämpft mit der Schrift gegen das Teuflische, wird heute durch automatisches Buchblättern mit Sound für Touristen aufbereitet. Das müssen wir natürlich sehen und hören.
Jeder Abend schließt in der Jugendherberge mit einer Reflexionsrunde, doch der letzte Abend leuchtet im Zeichen des Martin-Tages. Am 10. November hat Martin Luther Geburtstag. Wir bieten ihm eine würdige Geburtstagsparty, singen mit Herzenslust (naja: auch) Luther-Songs und sind ein Herz und eine Seele.
Zurück in Aachen gestaltet der LK eine Andacht und bringt Oberstufenschülern eine Erkenntnis der Fahrt nah. Das, was Luther ‚Rechtfertigung durch einen gnädigen Gott‘ nennt, beantwortet die heutige Frage nach dem Sinn des Lebens, das Eingebundensein in etwas Größeres, das den selbstgemachten Sinn im Leben überschreitet.
Für ein Resümee fragen wir doch Martin Luther selbst: Kann man auf so eine Fahrt verzichten?
Die Antwort gibt er in einem handschriftlichen Kommentar in seiner Bibel: „Nö“, denn Luther lohnt sich!