#Orientierungleben

„Wir hören die Stimme der Erde von Auschwitz“

Bericht zur jährlichen Gedenkfahrt der Viktoriaschule Aachen

„Auschwitz steht für das unfassbare Verbrechen der Nationalsozialisten gegen die Menschlichkeit.“ Die Gedenkfahrt nach Auschwitz hat das Ziel, den Schülerinnen und Schülern diesen Satz begreifbar zu machen. Gerade heute, angesichts der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, gewinnen Gedenkfahrten wie die der Viktoriaschule Aachen eine noch stärkere Bedeutung. Jedes Jahr besuchen zwanzig Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe EF mit zwei begleitenden Lehrerinnen und Lehrern die Lager in Auschwitz und Auschwitz-Birkenau.

Bereits im Vorfeld der Fahrt beschäftigt sich die Gruppe mit wichtigen Fakten zur Zeit des Nationalsozialismus und zur Judenverfolgung und -vernichtung durch das nationalsozialistische Regime. Allerdings wird immer wieder deutlich, dass es unmöglich ist, sich vorzustellen, was in den Lagern passiert ist. Die zunehmende zeitliche Distanz zum Holocaust stellt für die Teilnehmer eine zusätzliche Hürde bei der Erschließung des Themas dar; mit den geschichtlichen Daten allein kann den ca. 15jährigen Schülern Bedeutung und Ausmaß des Holocaust nicht nahegebracht werden. Daher setzt sich die Gruppe während der Fahrt mit Einzelschicksalen (von Zeitzeugen, im Film und in Ausstellungen) auseinander, die eine weitgehende Identifikation mit den Opfern ermöglichen. Nach der Anreise besichtigen wir noch am Ankunftstag die Synagoge von Oświęcim und lernen dort grundsätzliches über die jüdische Kultur und den jüdischen Glauben. Das Wissen über den Holocaust wird an den beiden darauffolgenden Tagen im Laufe von zwei jeweils vierstündigen Führungen im Stammlager und im Vernichtungslager intensiviert. Anschließend haben die Schülerinnen und Schüler die Gelegenheit, in Kleingruppen die Länderausstellungen im Stammlager zu besuchen, um sich Dokumente, Berichte und Gedenkstätten in Ruhe anzuschauen und auf sich wirken zu lassen.

Das über Auschwitz erlangte Wissen und auch der Prozess des Nicht-Verstehens beschäftigt jeden Besucher. Und so kommt es bei jeder der Gedenkfahrten zu einem beobachtbaren Reifeprozess der Schülerinnen und Schüler, der mal im Stillen mit sich selbst, mal in der Gruppe vollzogen wird: „Wenn ich damals gelebt hätte, was hätte ich getan?“ Gerade als Deutscher beginnt man in Auschwitz, seine Identität zu hinterfragen, vielleicht sogar seine Familiengeschichte aufzuarbeiten und Gefühle der Scham und der Schuld aufzubauen, wenn man durch die Lager geht, sämtliche Dokumente lesen und Tonaufnahmen verstehen kann. Unsere Aufgabe als Lehrerinnen und Lehrer ist es, das Gefühl der Schuld, das viele Schülerinnen und Schüler erleben, wahrzunehmen und zu verdeutlichen, dass wir heute zwar nicht mehr verantwortlich sind für die Vergangenheit, wohl aber für das, was in Gegenwart und Zukunft geschieht. Automatisch verleitet der Besuch in den Lagern zu einem Austausch. Meistens sehr emotional, sehr intensiv und sehr offen tauschen sich die Schüler und Kollegen über Gesehenes, Gelesenes, Gefühltes und Gedachtes aus. Dabei ist die Konstellation sekundär: in Kleingruppen, in der ganzen Gruppe der Teilnehmer, ob Schüler untereinander, Lehrer untereinander oder altersgemischt – jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer ist dankbar dafür, dass man innerhalb der Gruppe so offen ins Gespräch kommen und all das teilen kann, was einen beschäftigt und bewegt. Auch im weiteren Verlauf und nach der Fahrt gibt es Möglichkeiten einen Dialog zu führen: sei es am vorletzten Tag der Fahrt beim Besuch der Stadt Krakau, bei deren Stadtführung man sich gut sowohl über die polnische Geschichte als auch über die polnische Gegenwart informieren kann oder nach der Rückkehr im Gespräch mit Familie und Freunden. Einen besonderen Dialog bietet das Zeitzeugengespräch, bei dem wir uns alle bewusst sind, dass sich diese Gelegenheit wohl nicht mehr lange bieten wird. Als Schule der Evangelischen Kirche ist es uns wichtig, christliche Werte zu vermitteln und nach ihnen zu handeln. Die Gedenkfahrt nach Auschwitz entspricht in ihrer Anlage und Durchführung diesem Leitgedanken unseres Schulprofils. Ob die Schülerinnen und Schüler während der Fahrt das Gespräch mit Gott suchen oder in ihrem Glauben gestärkt werden, wissen wir nicht. Es ist aber zu beobachten, dass alle die abschließende von Schülern geleitete Andacht wertschätzen und die darin eingebettete Schweigeminute nutzen, um der Menschen zu gedenken, die unter den Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes leiden mussten.

„Wir alle haben den Auftrag, eine Welt zu schaffen, in der alle miteinander befreundet sein können.“ Ein großes Ziel angesichts der aktuellen Entwicklungen, das es sich aber zu verfolgen lohnt – dies ist allen Teilnehmern der Fahrt jedes Jahr klar.